»In der ambulanten Versorgung von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen besteht ein erheblicher Versorgungsbedarf.« Das wird in dem am 16. Januar 2012 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vorgelegten Zwischenbericht zum Gutachten »Zur ambulanten psychosomatischen/ psychotherapeutischen Versorgung in der kassenärztlichen Versorgung in Deutschland – Formen der Versorgung und ihre Effizienz« festgestellt. Das Gutachten wird von der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Ruprecht-Karls- Universität Heidelberg im Auftrag der KBV erstellt. Ausgewertet wurden aktuelle Literatur zur Versorgung sowie Querschnittsdaten der KBV aufgrund von Abrechnungszahlen. Die Studienlage legt nahe, dass der Versorgungsbedarf nicht einmal annähernd ausreichend gedeckt ist. Wartezeiten bis zu 2,5 Monaten auf ein Erstgespräch werden festgestellt. Psychische und psychosomatische Störungen sind Volkserkrankungen, die immer häufiger auftreten bzw. diagnostiziert werden. In der Regel sind die Patienten multimorbid erkrankt, haben also eine hohe Krankheitslast. Die psychischen Störungen beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen, führen zu einem kontinuierlichen Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage, sind mit langen Ausfallzeiten verbunden, stellen die häufigste Ursache für die vorzeitige Verrentung dar und gehen mit einer vermehrten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems einher. Die häufigsten Diagnosen betreffen depressive Störungen, Angst- und Anpassungsstörungen. Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung erfüllen im Laufe eines Jahres die Kriterien der entsprechenden ICD-10-Diagnosen (Lebenszeitprävalenz). Diese hohe Krankheitslast und den hohen Gesamtleistungsbedarf wolle die KBV bei der Neuentwicklung der Bedarfsplanung berücksichtigen, so der Vorsitzende des Vorstandes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Köhler. Weiterhin wird in dem Gutachten auch das Behandlungsprofil der unterschiedlichen Behandler, also der Nervenärzte, Psychiater, Fachärzte für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und der Psychologischen Psychotherapeuten, analysiert. Es wurde festgestellt, dass sich die abgerechneten Leistungen der unterschiedlichen Behandler deutlich unterscheiden. Bei Nervenärzten finden sich mehr Patienten mit neurologischen Störungen, Nervenärzte und Psychiater rechnen überwiegend Leistungen der psychiatrischen Basisversorgung ab (Kap. 21 EBM). Insgesamt versorgen Nervenärzte und Psychiater niederfrequent viele Patienten mit eher kurzen Terminen. Bei Fachärzten für psychosomatische Medizin und Psychotherapie steht die Richtlinienpsychotherapie im Vordergrund (Kap. 35 EBM). Kap. 22 EBM kommt in 13,5 Prozent der Fälle zur Anwendung. Bei den Fachärzten für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist der Anteil der somatoformen Störungen höher. Der Anteil an Richtlinienpsychotherapie ist bei den Psychologischen Psychotherapeuten am höchsten. Die Psychologischen Psychotherapeuten unterscheiden sich hinsichtlich der von ihnen vorrangig behandelten Diagnosen kaum von den ärztlichen Psychotherapeuten. Der größte Anteil der Gespräche dauert mindestens 50 Minuten, es gibt weniger kurze Gespräche mit Patienten.
Bedarf orientiert sich nicht an Stundenkontingenten
Eine aus unserer Sicht wichtige Erkenntnis: Die Studienlage weist auf eine individualisierte, an den Patienten adaptierte Inanspruchnahme psychotherapeutischer Ressourcen hin, denn die bewilligten Stundenkontingente werden bei Weitem nicht immer ausgeschöpft. Vielmehr werden die Therapien bei entsprechendem Ergebnis durchaus früher beendet. Damit wäre das Vorurteil, der Behandlungsbedarf orientiere sich an den Stundenkontingenten, ein weiteres Mal widerlegt.
Daher ist es nicht zu verstehen, dass Andreas Köhler die Zeitkontingente für überholt hält. Die Zeitkapazitätsgrenzen waren seit Langem das Sinnvollste, was erfunden wurde für die psychotherapeutischen Praxen, weil Psychotherapeuten weit überwiegend zeitgebundene Leistungen erbringen und innerhalb der zeitbezogenen Kapazitätsgrenzen als Mengensteuerungsinstrument die Leistungen je nach dem Bedarf der jeweiligen Praxis erbracht werden konnten. Es ist sehr bedauerlich, dass im Versorgungsstrukturgesetz (VStG) davon wieder abgerückt wurde.
Auf Basis der Ergebnisse wäre für die Zukunft zu überlegen, ob Psychologische Psychotherapeuten sich ebenfalls mehr an einem niederschwelligen Angebot mit entsprechenden Leistungen beteiligen können sollten. Die Erweiterung der Gebührenziffern im Kap. 23 EBM um eine Sprechstundenziffer, eine Ziffer für Erhaltungstherapie oder niederfrequente Behandlung könnte eine Lösung darstellen. Eine entsprechende Änderung im EBM könnte auch die Gruppentherapie stärken, die derzeit nur ein Prozent der abgerechneten EBM-Leistungen einnimmt.
Schlussfolgerungen des BPM teilt VPP nicht
Aufgrund der Ergebnisse kann der VPP der Forderung des Berufsverbandes der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands (BPM) nach einer höheren Quote für ärztliche Psychotherapeuten wegen eines durch die Studie aufgezeigten Mangels bei der Versorgung psychosomatischer und somatoformer Störungen nicht folgen. Herbert Menzel, der Vorsitzende des BPM, kommentiert, dass der Bedarf im Bereich der somatoformen Störungen am besten vom Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie geleistet werden könne, da dieser sowohl über die dafür notwendigen medizinischen als auch über die psychotherapeutischen Kenntnisse verfüge.
Er begründet damit die Forderung nach einem eigenen Bedarfsplanungsbereich für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er sei daran erinnert, dass die 40-Prozent- Quote für ärztliche Psychotherapeuten über zehn Jahre nicht ausgefüllt werden konnte. Durch die Absenkung der Quote auf 25 Prozent konnten freie Kassensitze durch Psychologische Psychotherapeuten besetzt werden, die insgesamt den größten Teil der psychotherapeutischen Versorgung leisten.
Der VPP sieht sich durch die Daten des Zwischenergebnisses insgesamt in seiner Position bestärkt. Die Lösung der Versorgungsengpässe kann jedoch nicht in einer eigenen Bedarfsplanungsgruppe für Fachärzte für psychosomatische Medizin und Psychotherapie bestehen oder in Selektivverträgen, wie dies in einigen Kommentaren zum Zwischenbericht vorgeschlagen wird. Stattdessen wäre eine Angleichung der abrechenbaren Leistungen im EBM an die der ärztlichen Psychotherapeuten zu überdenken.
Eva Schweitzer-Köhn,