Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

Frauen und Männer - was im therapeutischen Kontext zu bedenken ist

In Therapien gehen häufiger Männer als Frau. Doch was sagt uns das wirklich? Es nehmen dreimal weniger junge Männer (ca. 6.200 Betroffene) eine Therapiemöglichkeit in Anspruch wie Frauen (mit 17.900 Betroffenen). Es besteht zwischen 16 und 24 Jahren ein gleichbleibender Unterschied. Dies bedeutet leider nicht, dass männliche Personen weniger gefährdet sind.

Ist Emotionen zeigen schwach?

Eine mögliche Erklärung ist das noch immer bestehende Ungleichgewicht der Rollen innerhalb der Gesellschaft, sogenannte Geschlechterstereotype. Jungen und angehende Männer, müssen sich häufig mit Rollenbildern auseinandersetzen, in denen sie die Starken sind, die Beschützer. Ein Rollenbild das neben den sicher gut gedachten Anteilen leider mit negativen Aspekten einhergeht. Eines, das sich nicht seinen Emotionen hingeben darf, im Gegensatz zu jungen Frauen, die gesellschaftlich tendenziell eher als emotional akzeptiert werden. Schließlich sind Frauen nach diesem Bild gefühlsbetonter, offener für Gespräche über Emotionen und innere Zustände.

Wird dieser Gedanke des Geschlechterstereotyps durchgespielt, hat ein junger Mann bereits von klein an gehört: „Ein Junge weint nicht“, „Da musst Du als Mann drüberstehen“, „Wenn Du Angst zeigst, bist Du schwach – kein Junge“. Aussagen, die sich verfestigen können und selbst wenn sie für einen kurzen Moment Stärke auslösen, sich mit der Zeit rächen können.

Im späteren Jugendalter kommt die typische eher dominante Haltung untereinander zu tragen. Der Stärkere gewinnt, der Stärkere ist der Alpha-Typ seiner Gruppe und derjenige mit Erfolg beim anderen Geschlecht. Auch im Erscheinungsbild liegt "stark sein" im Trend. Mit den falschen Aufputschmitteln zum schnelleren Muskelaufbau können sich gesundheitlich schädliche Ausrutscher ereignen. Die jungen Männer, die das Ideal nicht erreichen, hören eventuell auch noch abwertende Aussagen wie: „Du bist ein Lauch“ in der Umkleide. Oder auch von gleichaltrigen Frauen, die Vergleiche anstellen und erwarten, dass sich ein Mann in dem Alter entsprechend nach Idealen verhält und auch so aussieht. Es bleiben die alten Stereotypen bestehen, zeigt „Mann“ Gefühle oder entspricht er nicht dem Ideal, ist er schwach, nicht erfolgreich und kein „richtiger“ Mann. Eine schöne Fassade zu erhalten wird daher oft von jungen Männern eingeübt. Das schützt vorübergehend davor, „kein Opfertyp zu sein“. Eine Akzeptanz, für die echten eigenen Gefühlen fehlen.

Vielleicht schämt er, wenn doch die Tränen fließen und fühlt sich innerlich hilflos, zerbrochen und minderwertig, weil er sich diese Schwäche eingestehen muss und in dem ihm auferlegten Rollenbild versagt. Es kann zu einer abwertenden Erlebniskaskade von außen (Ignoranz, Spott, Abwertung, Isolation, Überforderung bei Menschen denen eine Akzeptanz für unangenehme Gefühle fehlt) und von innen kommen (Schuldvorwürfe, Selbsthass). Was bleibt sind ggf. Emotionen, mit denen dieser junge Mensch nicht umgehen kann, hinzu kommt die Angst und das Gefühl schwach zu sein.

Sichtbarkeit von psychischer Belastung

Ein Blick auf Suizidraten offenbart: Dreimal mehr Männer sterben an Suizid als Frauen. 2019 starben 6842 Männer an Suizid und 2199 Frauen (Statistik der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2021) . Die Schere zwischen den Geschlechtern nimmt mit zunehmendem Alter zu, siehe hierzu die Grafik der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Universität Kassel, 2021 .

Ungeklärte Fragen

Es verüben mehr junge Frauen Selbstmordversuche, die nicht tödlich ausgehen oder abgebrochen werden. Hier könnte der Wunsch, weiterleben zu wollen (oder nicht sterben zu wollen), sich sowohl in der Therapiesuche als auch in der weniger letalen (weniger tödlichen) Wahl und ambivalenten Umsetzung eines Suizids niederschlagen. In diesem Kontext sei auf das oft thematisierte Genderparadox (Carnetto, 1998) verwiesen, nach dem Frauen theoretisch aufgrund der häufigen Selbstmordversuche auch höhere Suizidraten aufweisen müssten, doch es ist umgekehrt.

Fatale Schönheitsideale und die Flucht vor dem Selbst

Daher sollte den Gründen der Therapie mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nach der Analyse der Krankenkasse sind insbesondere Essstörungen und Depressionen bei jungen Frauen vertreten. Mögliche Ursache, vielleicht auch hier ein verkanntes Rollenbild?

Der Spiegel der Gesellschaft, die Medien wie Instagram, Werbespots etc., zeigen junge Frauen immer im Ideal. Schlank, sportlich und trotz natürlicher Schönheit mit Bildbearbeitungsprogrammen perfektioniert. „Makel“ wie ein Muttermal, Vertiligo, Cellulite oder Narben werden retuschiert. Das Endprodukt, ist eine "schöne Illusion" und ein nicht erreichbares Ideal für junge Mädchen und Frauen. Es kommt nach anfänglichen Bemühungen, diesem Ideal zu entsprechen, zu Selbstwertdiskrepanzen. Diese nehmen mit dem Selbstfokus immer weiter zu und werden bewusster (Frey, Wicklund & Scheier, 1978) und äußern sich in Unzufriedenheit und Niedergeschlagenheit (Higgins et al., 1986) und möglicherweise dem Beginn einer Depression.

Es kommt entweder zu exzessiven Sport, einseitigem Essen bis hin zum Hungern und Erbrechen und plötzlich verringert sich die Kleidergröße - ein fälschliches Erfolgserleben tritt ein. Fatale Ansichten werden durch das soziale Umfeld und Medien unterstützt, schließlich will man nicht das Opfer des Mobbings werden. Bis es letztendlich zu spät ist und der Weg in eine Sucht des Abnehmens geebnet wurde. Ebenso kann das andere Extrem durch diese falschen Schönheitsideale entstehen und um dem Selbstfokus zu entkommen, wird auf andere Spannungslöser zurückgegriffen. Heatherton und Baumeister (1991) gehen in ihrer Escape-Theorie davon aus, dass das Binge Eating-Verhalten bei Bulimia nervosa mit einer Fluchtmotivation vor dem Selbstwahrnehmen einhergeht. Nach diesen haben die Betroffenen einen hohen Selbstfokus, gekoppelt an negative Emotionen, Ängste und Depressionen. Es kommt zum Versuch, diesem Fokus zu entfliehen und das, indem eine Enthemmung gegenüber dem Essen entsteht, da dieses zum Zentrum der Aufmerksamkeit wird um all die anderen, quälenden Emotionen auszublenden. Das die Koppelung des Selbstwerts an die eigene Figur gar nicht so abwegig ist und häufig mit Mobbing-Erfahrungen einhergeht, belegten bereits einige Studien.

Gesellschaftlicher Aspekt und Mobbing

Unter diesem Aspekt sollte auch ein Blick auf die gesamte Jugendlichen-Gruppe geworfen werden, denn neben der Inanspruchnahme von Therapieangeboten, konnte eine Metastudie mit 2,5 Millionen Jugendlichen zum Thema Suizidgefahr bei jugendlichen Angehörigen einer sexuellen Minderheit zeigen, dass diese bereits 2018 ein erhöhtes Risiko tragen. Hier spielen allen voran Mobbing-Erfahrungen, soziale Konflikte und familiäre Krisen eine große Rolle. Entspricht der junge Mensch nicht den gesellschaftlichen Erwartungen, wird er belächelt, ausgegrenzt oder erfährt psychische Gewalt. Möglich das auch diese Minderwertigkeitsgefühle bei jungen Menschen eng mit dem Thema des Suizids verknüpft sind, schließlich haben auch diese von klein an durch ihr Umfeld hören müssen wie ein Mann oder eine Frau zu sein hat. Nach einem Ideal, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und trotz scheinbaren Änderungen in seiner Struktur recht starr bleibt. Akzeptanz ist dort vorhanden, wo sie gesellschaftlich akzeptabel ist. Eine Meinung im Familiensystem (Brüder, Schwestern, Eltern, Großeltern,) kann sich von der öffentlichen Position unterscheiden.

Ungleiche Belastungsfaktoren und -ereignisse

Eine weitere Möglichkeit sind Unterschiede in den erlebten Belastungsfaktoren oder Belastungsereignisse. So erleben Frauen häufiger früh Gewalt, insbesondere im sexuellen Kontext, dabei sei auf die folgende Studie verwiesen, sowie auf Daten des RKI. Die Gestalt von Symptomen und Kompensationsstrategien kann sich bei Männern und Frauen unterscheiden. Gerade bei Männern und Frauen können der Verdrängungswunsch von psychischen Symptomen jeglicher Art, das Betäuben über Substanzen und ein Vorhandensein von vertrauten Personen, mit denen sich darüber reden lässt, als verschieden gut zugänglich eingeschätzt werden. Auch Essstörungen treten bei Männern auf, jedoch seltenener sichtbar.

Am Ende bleibt es ein fragiles Selbst, mit dem diese jungen Menschen kämpfen müssen, um ihren Platz im Leben und in der Gesellschaft in Zufriedenheit finden zu können. Das Nationale Suizidpräventionsprogramm betont dass Suizidprävention möglich ist und weiter ausgebaut werden darf.

Isa Julgalad