In Deutschland sind rund 18 Mio. Menschen psychisch erkrankt (Jacobi, 2014). Psychische Erkrankungen sind bereits seit vielen Jahren mit Abstand die häufigste Ursache für Frühberentungen und verursachen zunehmend mehr Arbeitsunfähigkeitstage v. a. bei jüngeren Erwachsenen und damit hohe Kosten für das Sozialsystem. Doch nicht einmal jede/r fünfte Betroffene befindet sich in Behandlung – über 80% bleiben unbehandelt (Mack, 2014). Dies liegt u. a. an einer immer noch andauernden Stigmatisierung und mangelnder gesellschaftlicher Aufklärung. Eine besondere Herausforderung in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen besteht allerdings darin, dass Therapieplätze vielerorts rar sind. Betroffene suchen im Bundesmittel über zwanzig Wochen nach einem Therapieplatz (BPtK, 2018; VPP, 2021; dt. Bundestag, 2022). Jeder Mensch, der unter einer behandlungs- bedürftigen psychischen Erkrankung leidet, sollte eine zeitnahe und passgenaue Behandlung erhalten können. In Zeiten der Krisen und begrenzten finanziellen Ressourcen ist das keine einfache Aufgabe und der Ruf nach effizienten Lösungen verständlich.
Ambulant vor stationär
Grundsätzlich gilt ist eine ambulante Behandlung einer stationären vorzuziehen, wann immer dies möglich ist. Betroffene sind bei einer stationären Behandlung gezwungen, temporär ihre vertraute Umgebung zu verlassen, was u. a. zu organisatorischen Schwierigkeiten (z. B. bei der Betreuung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen) führen kann. Ein stationärer Aufenthalt ist oft auch um ein Vielfaches kostenintensiver als eine ambulante Behandlung. Der Behandlungserfolg ist dabei aufgrund einer häufig fehlenden nahtlosen ambulanten Weiterbehandlung oftmals gefährdet. Denn die Zeit nach einer stationären Entlassung ist mit Risiken einer Wiederverstärkung von Symptomen verbunden. Kostspielige stationäre Aufenthalte könnten bei ausreichend zeitnahen ambulanten Kapazitäten somit deutlich verringert werden.
Zugang zur ambulanten Versorgung
Um die vorhandenen Ressourcen effizienter nutzen zu können, müssen diese zielgenau und effektiv eingesetzt werden. Dazu bedarf es einer zeitnahen fundierten Diagnostik, Indikationsstellung und individueller Behandlungsplanung. Dies sind Bestanteile der täglichen psychotherapeutischen Arbeit, für die mit der psychotherapeutischen Sprechstunde bereits das passende Setting geschaffen wurde. Aber: In Regionen, in denen die Kapazitäten in den psychotherapeutischen Praxen mehr als ausgeschöpft sind, führt eine solche Sprechstunde allenfalls zu enttäuschten Hoffnungen, da im Anschluss oftmals kein Therapieplatz vorhanden ist. Eine indizierte und empfohlene Behandlung muss auch verfügbar sein!
Wartezeiten verkürzen
Die Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz betrug schon vor der Pandemie im Bundesmittel rund 20 Wochen (BPtK, 2018), mit erheblichen regionalen Unterschieden (Ritter-Rupp et al., 2023). Die zumutbare Wartezeit für eine Richtlinienpsychotherapie sollte aus fachlicher Sicht jedoch 8, maximal 12 Wochen nicht überschreiten, um eine Chronifizierung zu verhindern – das gilt auch für strukturschwache ländliche Regionen!
Die Argumentation, dass die langen Wartezeiten lediglich auf einer Fehlsteuerung beruhen, konnte unlängst durch eine Auswertung von Abrechnungsdaten widerlegt werden (Böker & Hentschel, 2023). Die durch eine bedarfsgerechte Versorgung entstehenden Mehrkosten werden durch Einsparungen in anderen Sektoren des Sozialsystems mehr als kompensiert (Wittmann et al., 2011). Den größten Kostenfaktor macht die große Gruppe der mittelschwer Erkrankten aus (DGPPN, 2018; DPtV, 2021, Jacobi, 2004). Hier ist eine frühzeitige ambulante Behandlung sinnvoll, um eine Chronifizierung (z.B. Kautzky et al., 2019; Kraus et al., 2020) und Folgekosten (durch z.B. somatische Folgeerkrankungen, Arbeitslosigkeit, Frühberentungen und Folgen für Kinder und Angehörige) zu vermeiden. Um dies zu ermöglichen, muss bei der Bedarfsplanung dringend nachjustiert und die im Koalitionsvertrag vorgesehene Reform der Bedarfsplanungsrichtlinie durchgeführt werden.
Ressourcen des Systems nutzen
Die Versorgung psychisch Erkrankter Menschen erfolgt neben der Behandlung in Kassenpraxen auch in Privatpraxen im Rahmen der außervertraglichen Psychotherapie. Jedoch ist seit Einführung der Terminservicestellen dieser Weg für Betroffene erschwert, weil die Auslegung der gesetzlichen Grundlage durch Krankenkassen bzw. der Medizinische Dienst sehr heterogen ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Terminservicestellen vermehrt als Ablehnungsgrund für eine außervertragliche Psychotherapie gem. § 13 Abs. 3 SGB V benennen. Mit Einführung der Terminservicestellen wurden jedoch die Behandlungskapazitäten innerhalb des GKV-Systems nicht erweitert und die Versorgungslage damit nicht verbessert. Es bedarf hier einer Konkretisierung der bestehenden Rechtsgrundlage. Hilfreich wäre auch, wenn die Krankenkassen die Daten über den Umfang der im Rahmen der außervertraglichen Psychotherapie erfolgten Behandlungen offenlegen müssten.
Verbesserung der stationären Versorgung
Um dies zu ermöglichen, müssen diese im Stellenplan gemäß Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik (PPP)-Richtlinie zwingend vorgesehen werden.
Verzahnung der Sektoren
Die Versorgung gerade schwerer psychisch erkrankter Menschen könnte deutlich verbessert werden, wenn einerseits ambulante Behandlungsmöglichkeiten verfügbar und darüber hinaus stationäre und ambulante Versorgungsbereiche besser vernetzt wären. Hierfür müssen ausreichende Vergütungsregelungen für den sektoralen Übergang zur Verfügung gestellt werden. Ein erster wichtiger Schritt wurde mit der Möglichkeit der Wahrnehmung einer probatorischen Sitzung während einer stationären Behandlung umgesetzt. Weitere Schritte wie die Option, auch eine psychotherapeutische Sprechstunde während der stationären Behandlung durchzuführen und abrechnen zu können sowie flexible längere Probebeurlaubungen mit ambulanter Behandlung, sollten folgen.
Um effizient interdisziplinär arbeiten zu können, müssen Kooperationen (z. B. in Arbeitskreisen) abrechnungsfähig sein sowie auch die fallspezifische Zusammenarbeit mit Kassenpraxen und Fachkräften anderer Berufe und Dienste (wie beispielsweise die Schulpsychologie, Migrationsberatung, Schuldnerberatung, Ehe-, Lebens- oder Erziehungsberatung). Hierfür bedarf es in der Regelversorgung also Kooperations- und Koordinationsziffern. Ein komplexer Behandlungsbedarf besteht auch bei vielen Patient:innen in der Regelversorgung, selbst wenn sie die Kriterien für die Komplexversorgung nicht vollständig erfüllen oder vor Ort kein Platz in einem Versorgungsnetz nach der neuen Richtlinie verfügbar ist.
Verantwortung übernehmen!
Anders als in einigen Facharztgruppen gibt es im Bereich der Psychotherapie aktuell keinen Fachkräftemangel. Die Psychotherapeut:innenschaft ist fachlich in der Lage und bereit, Verantwortung in der Versorgung und deren Gestaltung zu übernehmen. Wir fordern die Regierungskoalition auf, den Koalitionsvertrag umgehend umzusetzen und damit der von ihr selbst ja bereits identifizierten gesellschaftlichen Verantwortung bei der Versorgung von psychischen Erkrankungen nachzukommen.
Ansprechpartnerin: Dipl.-Psych. Dr. Johanna Thünker (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) vertritt die beruflichen Interessen über 10.000 niedergelassener, selbstständiger und angestellter/ beamteten Psychologinnen und Psychologen aus allen Tätigkeitsbereichen. Als der anerkannte Berufs- und Fachverband der Psychologinnen und Psychologen ist der BDP Ansprechpartner und Informant für Politik, Medien und die Öffentlichkeit.
Quellenverzeichnis
Böker, U., & Hentschel, G. (2023). Ambulante psychotherapeutische Versorgung: Hohe Krankenlast – bedarfsgerechte Versorgung. Ärzteblatt PP, Ausgabe März 2023, Seite 103. Online verfügbar: https://www.aerzteblatt.de/archiv/230190/Ambulante-psychotherapeutische-Versorgung-Hohe-Krankheitslast-bedarfsgerechte-Versorgung
BPtK (2018). Ein Jahr nach der Psychotherapierichtline – Wartezeiten 2018. Herausgeber: Bundespsychotherapeutenkammer. Online verfügbar: https://api.bptk.de/uploads/20180411_bptk_studie_wartezeiten_2018_c0ab16b390.pdf
Deutscher Bundestag (2022). Wartezeit auf eine Psychotherapie. Studien und Umfragen. Herausgeber: Wissenschaftliche Dienste des dt. Bundestages. Online verfügbar: https://www.bundestag.de/resource/blob/916578/53724d526490deea69f736b1fda83e76/WD-9-059-22-pdf-data.pdf
DGPPN (2018). Dossier: Psychische Erkrankungen in Deutschland: Schwerpunkt Versorgung. Online verfügbar unter: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/f80fb3f112b4eda48f6c5f3c68d23632a03ba599/DGPPN_Dossier%20web.pdf
DPtV (2021). Report Psychotherapie 2021. Herausgeber: Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung e.V. 2. Auflage Mai 2021. Online verfügbar: https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Dokumente/Wissensdatenbank_oeffentlich/Report_Psychotherapie/DPtV_Report_Psychotherapie_2021.pdf
Jacobi, F., Klose, M., & Wittchen, H.U. (2004). Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltagen. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung und Gesundheitsschutz; 47:736–744. DOI 10.1007/s00103-004-0885-5.
Kautzky, A., Dold, M., Brtova, L., et al. (2019). Clinical factors predicting treatment resistant depression: affirmative results from the European multicenter study. Acta Psychiatrica Scandinavia: 139: 78–88. DOI: 10.1111/acps.12959.
Kraus, C., Kadriu, B., Lanzenberger, R., Zarate, C.A., & Kasper, S. (2020). Prognosis and improved outcomes in major depression: a review. Translational Psychiatry; 9:127. https://www.nature.com/articles/s41398-019-0460-3
Ritter-Rupp, C., Fett, S. & Pfeifer, A.-K. (2023). Analyse der Wartezeiten in der Psychotherapie in Bayern. Online veröffentlicht auf zenodo.org. DOI:10.5281/zenodo.7599322
VPP (2021). Wir setzen uns ein im „Superwahljahr 2021“. VPP aktuell; 52; 12-18: Online verfügbar: https://www.vpp.org/cms/images/2021/Beitraege/VPP_M%C3%A4rz_Versorgung.pdf
Wittmann, W.W., Lutz, W., Steffanowski, A., Kriz, D., Glahn, E.M., Völkle, M.C., Böhnke, J.R., Köck, K., Bittermann, A. & Ruprecht, T. (2011). Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellprojekt der Techniker Krankenkasse - Abschlussbericht. Hamburg: Techniker Krankenkasse. Online verfügbar: https://api.bptk.de/uploads/TK_Abschlussbericht_Qualitaetsmonitoring_in_der_ambulanten_Psychotherapie_474b2bbc7e.pdf