Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

„Politisches Lagerfeuer“: Psychotherapeutische Versorgung - Versorgungsgerechtigkeit

Die aktuelle psychotherapeutische Versorgung und ihre Lücken bzw. Lösungsmöglichkeiten waren Thema des „Politischen Lagerfeuers“ am 7. Oktober 2021.

Es bestehen keine Zweifel daran, dass es vielerorts weitreichende Lücken in der Versorgung gibt, was für Betroffene Belastungen mit sich bringt und gleichzeitig das Gesundheits- und Versorgungssystem weiter zusätzlich strapaziert. Die Verzögerung oder das Fehlen von Psychotherapie kann zur Chronifizierung, zu längeren Ausfällen am Arbeitsplatz, zu stationären Aufenthalten, zu gesundheitsgefährdendem Verhalten wie z. B. Suchtmittelkonsum oder zu weitreichenden Folgen für Familienangehörige bis hin zur Weitergabe über Generationen hinweg mit sich bringen. Auch die Suizidgefahr bei der aktuell häufigsten Diagnose in der Psychotherapie, der Depression, darf nicht übersehen werden. Für die in der Versorgung tätigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kann dies ebenfalls Folgen haben, z. B. schwierigere und langwierigere Psychotherapieverläufe.

Man sollte sich in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass bei körperlichen Erkrankungen ein solch unzureichendes Versorgungssystem undenkbar wäre und – mit Recht – den Protest von vielen Seiten hervorrufen würde. Die Idee, jeder Betroffene könnte zeitnah und unkompliziert seine Psychotherapie beginnen, wirkt dagegen fast unvorstellbar, wäre aber sehr entlastend, da die Praktizierenden weder Wartelisten führen noch Absagen erteilen müssten.

Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten könnten dann besser auf die Passung zwischen Hilfesuchenden und spezifischen Qualitäten der unterschiedlichen Therapieverfahren achten. Sie trügen zudem auch nicht mehr die große Verantwortung, die sich aus einer Ablehnung ergibt.

Inhalte der Veranstaltung

Um diese Thematik zu beleuchten und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren, fanden sich unter Moderation von BDP-Vizepräsident Gunter Nittel und der Psychotherapeutin und VPP Vorsitzenden Dr. Johanna Thünker einige kompetente Fachleute zusammen: die Psychotherapeutinnen Susanne Berwanger und Sandra Cotta, der Rechtsanwalt Jan Frederichs sowie der Psychiater und Psychotherapeut Prof. Dr. Stefan Siegel.

Zur Einführung erläuterte Prof. Dr. Stefan Siegel, dass die Zulassungsbeschränkungen ein Problem darstellen, da sie faktisch keine Grundlagen mehr besäßen. Bei der Festlegung der KV-Sitze seien willkürlich gewählte Daten zugrunde gelegt und Ist-Zahlen zu Sollwerten deklariert worden. Bemerkenswerterweise gebe es für Zahnärzte aber keine Zulassungsbeschränkung. Einzige Voraussetzung bei ihnen sei die Approbation, auf deren Grundlage dann über die Krankenkassen abgerechnet werden könne. Aus der Entwicklung und der Erfahrungen der zahnärztlichen Versorgung ergebe sich, dass nicht mit einer Überversorgung zu rechnen sei. Eine Öffnung des Abrechnungssystems brächte hingegen eine hohe Flexibilität für im psychotherapeutischen Bereich Arbeitende mit sich. In Verbindung mit Erziehungsphasen oder Kombination mit Angestelltenverhältnissen in Teilzeit oder anderen persönlichen Bedingungen ermögliche ein solches Abrechnungssystem vielen Beteiligten eine individuelle, optimale Berufstätigkeit.

Bedarf

Prof. Dr. Siegel verwies auf Studien, nach denen die Anzahl an Psychotherapien., die ohne wirklichen Bedarf durchgeführt werden viel niedriger sei als die Zahl der benötigten, die nicht realisiert werden können. Dass der Bedarf an wartenden oder erfolglos suchenden Patientinnen und Patienten da ist, zeigt sich immer wieder. Aussagekräftig sind hierbei folgende Zahlen: Per Gutachten konnte ermittelt werden, dass in Deutschland 2.400 Kassensitze fehlen, daraufhin wurden 776 geschaffen, die allerdings zum Teil mit Job-Sharing-Sitzen verrechnet worden sind. Dadurch werden mehr psychotherapeutisch Arbeitende gezählt, obwohl die Zahl der behandelbaren Patientinnen und Patienten auf den Kassensitz limitiert bleibt. Hierdurch wurde also die Bedarfsdeckung längst nicht erreicht.

Einige Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten denken über Jobsharing nach. Findet sich allerdings nach offizieller Teilung kein passender Sharing-Kollege, so besteht die Gefahr, dass unbesetzte Job-Sharingplätze aufgelöst und wegrationalisiert werden. Das Einstampfen von Psychotherapeutensitzen in Regionen, die versorgungsarm sind, stellt ein Risiko dar, unter dem letztlich die Betroffenen leiden.

Dr. Johanna Thünker wies darauf hin, dass auch innerhalb des bestehenden Systems außer dem Erwerb eines Kassensitzes unterschiedliche Zugänge zur Abrechnung mit den gesetzlichen Kassen möglich sind:

  • Sonderbedarfszulassung bei Bedarfen an bestimmten Qualifikationen,
  • Entlastungsassistenz innerhalb einer vorhandenen Praxis mit Kassensitz,
  • Ermächtigung und Job-Sharing, wozu allerdings vereinfachte Zugänge wünschenswert wären.

Sie betonte, dass eine große Anzahl gut ausgebildeter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vorhanden sei, sodass die notwendigen Leistungen erbracht werden könnten.

Weitere Aspekte

Susanne Berwanger berichtete über die Geschichte des Gedankens der „Rasterpsychotherapie“ – ein Versuch des Gesetzgebers über Standardisierung Kosten einzusparen. Mit einer medienwirksamen Kampagne, u. a. der Bundespsychotherapeutenkammer, konnte dies verhindert werden.

Jan Frederichs erläuterte die Situation kassenzugelassener Praxissitze: Die Auslastung sei sehr unterschiedlich. Es sei aber auch nicht abschließend definiert, was unter Vollauslastung zu verstehen sei. Es könne zahlreiche Beweggründe für eine spezifische Auslastung geben. Dr. Johanna Thünker ergänzte, dass in einer Praxis mit ganzem KV-Sitz nicht viel mehr Leistung erbracht würde als in einer mit halbem Sitz. Der Auftrag, die Kosten für erforderliche Therapien zu übernehmen und damit die Behandlungsoptionen zu sichern, liegt eindeutig bei den Krankenkassen. Es kann nicht sein, dass Therapeutinnen und Therapeuten der „Schwarze Peter“ zugeschoben wird. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen achten im Zuge des Erhalts ihrer eigenen Gesundheit und Psychohygiene auf die Anzahl ihrer Patientinnen und Patienten. Dies kann geachtet werden und muss nicht als Gegenargument gegen sie verwendet werden.

Sandra Cotta erklärte das Kostenerstattungsverfahren mit seiner eingeschränkten Wirksamkeit. Ein wichtiger Aspekt ist die Arbeit vieler Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die keine KV-Zulassung haben und sich per Kostenerstattungsverfahren bemühen mit den gesetzlichen Kassen abzurechnen. Der Erfolg der Antragstellung ist allerdings sehr davon abhängig, um welche Kasse es sich handelt, da es sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Die Konstruktion steht in engem Zusammenhang mit der Überlastung der Psychotherapiepraxen mit KV-Zulassung. Das Sozialgesetzbuch liefert eine eindeutige Grundlage dafür: Wer einen Psychotherapieplatz sucht und nachweisen kann, dass er keinen findet bzw. mehr als drei Monate warten muss, hat Anspruch auf dieses Verfahren. Sandra Cotta stellte auch dar, dass der Nachweis des Systemversagens als Voraussetzung nicht selten abgewehrt werde, oft auch ohne plausible Begründung, sowohl von Kassen als auch den Gutachter­innen und Gutachtern. Die Kostenerstattung sei daher keine verlässliche Lösung.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die per Kostenerstattung arbeitenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hier lediglich teilweise die Lücken füllen. Die Tarife werden an dieser Stelle von einigen Kostenträgern gedrückt, was eine geringe Wertschätzung der erbrachten Leistung ausdrückt bzw. impliziert, dass die gleiche Leistung willkürlich unterschiedlich vergütet wird. Zudem schreckt die Ungewissheit in der Antragserstellung ab, den Patientinnen und Patienten wird eben nicht selten eine erforderliche Behandlung verwehrt.

Mit Sicherheit hätten Veränderungen der Versorgungsstruktur Auswirkungen auf die Psychotherapielandschaft: Bestehende Praxen würden ihre Patientinnen und Patienten natürlich weiter behalten. In Ballungsgebieten würden sich aber vielleicht einige Therapeutinnen und Therapeuten spezialisieren. Angesichts des aktuellen Marktes würden sich vermutlich einige Betroffene, die sich aktuell in Behandlung bei z. B. Heilpraktikern für Psychotherapie befinden, über eine gesetzlich finanzierte Therapie freuen. Die Versorgungsqualität könnte steigen, wenn sich in hochbesiedelten Regionen mehr Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten spezialisieren. Behandlungserfahrung und Erkrankungsbilder, auf die sich eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut spezialisiert haben, könnten auf einer Praxiswebseite als Information eine bessere Passung der suchenden Patientinnen und Patienten ermöglichen. Dies würde wiederum für einige sicher die Effektivität des „Patienten-Castings“ und damit der Behandlung erhöhen.

Angesichts dieser Probleme ist die derzeitige Situation hochproblematisch, denn die Folgen sind für das gesamte Gesundheitssystem belastend.

Zusammenfassung der Diskussion

Die Übertragung der „Zahnarztregelung“ wurde im Zusammenhang möglicher Reaktionen betrachtet. Es ist unklar, wie Juristen darauf reagieren würden. Krankenkassen haben die Sorge, dass mehr Abrechnungen und Kosten auf Sie zukämen. Die Mehrkosten wären in einer Größenordnung, die das System nicht wirklich ins Wanken brächte. Zum Vergleich wurde angesprochen, dass Operationen teuer sind, Psychotherapie im Vergleich hingegen billiger!. Allerdings werden die Honorare der diversen Leistungserbringergruppen einfach in Summe gegenübergestellt.

Zur Frage der bisherigen Vergabe oder Weitergabe von Kassensitzen versus einer Aufhebung der Zulassungsbeschränkung wurde darauf hingewiesen, dass bisher für Kassensitze viel bezahlt wurde, sodass die jetzigen Inhaber sich benachteiligt fühlen könnten. Als Vorschlag wurde eine Übergangsregelung ins Gespräch gebracht, die z. B. eine Deckelung der Kassensitzpreise enthalten könnte. Allerdings wurde auch pointiert gesagt, dass die Trennung in Inhaber von Kassensitzen und solche, die keinen haben, ein Zwei-Klassen-System bedeute. Die jetzige Regelung sei ungerechter, da ein „Marktpreis ohne Gegenwert“ üblich sei. Versorgung sei dann gerecht, wenn die Patientinnen und Patienten das bekommen, was sie benötigen und eine faire sichere und vergleichbare Bezahlung für approbierte Therapeutinnen und Therapeuten realisiert wird.

Zum Thema der möglicherweise schlechten Versorgung auf dem Land, wobei die Uckermark immer wieder als Beispiel für typische strukturschwache Region herangezogen wird, kamen mehrere Beiträge: Dieses Problem betrifft auch andere Bereiche, z. B. die Versorgung mit Kinderärztinnen und Kinderärzten, insbesondere nach dem „Aussteigen“ der Baby-Boomer. Hierzu wurde auch auf die Bedeutung von Verkehrsanbindungen hingewiesen und auf ein Modell, wie die finanzielle Unterstützung während des Studiums im Gegenzug zur Verpflichtung, später in ländlichen Regionen zu arbeiten. Solche Modelle brächten aber die Frage der Legitimation unterschiedlicher Zuschläge mit sich.

Angesprochen wurde, dass das Fehlen von Psychotherapie für die Kostenträger nicht kostenersparend sei, vielmehr hohe Kosten verursachen kann: durch erhöhten Bedarf an Medikamenten und Klinikaufenthalten, Arbeitsausfälle, fehlende Effizienz bei Präsentismus, Frühberentungen und Wechselwirkungen mit anderen Erkrankungen. Aus systemischer Sicht wurde die Auswirkung von psychischen Erkrankungen der Eltern auf die Kinder als erhöhtes Erkrankungsrisiko angesprochen.

Bemerkenswerterweise seien einige Berufsgenossenschaften bereits weiter: Mitarbeitende erhielten nach Raubüberfällen oder Arbeitsunfällen 1.) eine unmittelbare Akutintervention durch traumaspezialisierte Psychologinnen und Psychologen; 2.) wenn erwünscht und erforderlich, über einen Therapeutenpool der Berufsgenossenschaften auch eine entsprechende Therapie ohne lange Wartezeit (etwa innerhalb von 14 Tagen). Das Risiko von Arbeitsunfähigkeit oder Chronifizierung würde dadurch natürlich verringert, eine gesunde Handhabung von psychischen Symptomen bzw. Erkrankungen gefördert.

Resümee

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein deutlicher Handlungsbedarf besteht, die Kostenträger handeln aber offensichtlich aus den Interessen ihrer Verbände heraus. Eine Überarbeitung der bestehenden Systeme ist sicher eine Herausforderung, der sich die Politik stellen muss. Zur Vertiefung sei auf den folgenden Beitrag im Ärzteblatt hingewiesen.

Isa Julgalad, Dr. Hanns Gerhard Koelbing