Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

Nebenwirkungen der Corona-Krise

Eine Erkrankung an Covid-19 ist für alle Betroffenen eine ernstzunehmende und potenziell lebensbedrohliche Gefahr. Mit Stand zum 26.04.2020 gibt es in Deutschland laut Robert-Koch-Institut (RKI) 154.175 bestätigte Fälle und 5.640 Todesfälle. Daher müssen Erkrankte optimal behandelt und Risikogruppen besonders geschützt werden, woran Politik, Gesundheitswesen und Gesellschaft auch unermüdlich arbeiten. Die direkten Folgen, nämlich Ausweitung der Infektionsrate, Komplikationen und Tod durch die Erkrankung werden bekämpft. Immer mehr rücken jedoch auch die indirekten Folgen der Corona-Krise in den Fokus.

Für Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen wahrscheinlich am offensichtlichsten sind die indirekten Folgen für psychisch Erkrankte. Ausgangssperren, Kontaktverbote und Quarantäne stellen nachvollziehbar zusätzliche Belastungen für diese dar. In einem Interview von spektrum.de betont Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, dass Menschen bei Depressionen unter fehlenden Sozialkontakten, bei Angsterkrankungen unter übermäßigen Sorgen, bei Schizophrenien unter verstärkten wahnhaften Befürchtungen, bei Suchterkrankungen unter Rückfällen und bei posttraumatischer Störungen verstärkt unter diesen Symptomen leiden könnten.
Durch den Wegfall von stützenden Sozialkontakten, Einsamkeit, fehlender Routine, medialer Informationsflut, Ängsten, ausfallenden Therapietermine, Stationsentlassungen, unterbrochener Medikamentenzufuhr und Besuchsverbote in Kliniken sei eine Verstärkung psychischer Belastungen zu erwarten.

Jedoch trifft dies nicht nur bereits Erkrankte. Jede Krise führe nach Meyer-Lindenberg zu einer vermehrten Belastung und seid damit ein Risikofaktor für die Manifestation von psychischen Erkrankungen. Die „Psyche in der Krise“, das findet auch spektrum.de in einem anderen Artikel, in dem betont wird, dass die Belastungen jeden beeinflussen können. Egal, ob Ärzte, Pflegekräfte, Eltern, Kinder, Alleinerziehende, im Homeoffice Tätige, Ein-Personen-Haushalte, Wohngemeinschaften oder Großfamilien – bei allen können Ansteckungssorgen, Umstellungen im Alltag, existenzielle Zukunftsängste etc. chronischen Stress auslösen. So auch die Weltgesundheitsorganisation WHO (Department of Mental Health and Substance Use): „Corona pandemic is generating stress throughout the population.“

Auch die Akkon Hochschule für Humanwissenschaften beschäftigt sich in einem Zwischenbericht mit den Auswirkungen der Corona-Krise für die allgemeine (deutsche) Bevölkerung auf Verhalten, Erleben und Bewältigung. Mehr als 4.500 Personen haben insgesamt an den Studien teilgenommen. Auch wenn die Verteilung nicht 100%ig repräsentativ bezogen auf die bundesweite Bevölkerung ist, können doch interessante Schlüsse gezogen werden. So sehen >50% der Befragten die aktuelle Ausbreitung des Corona-Virus mit all seinen Begleiterscheinungen für sich persönlich als gefährlich bzw. sehr gefährlich an. Zwischen 54% und 70% der Befragten würden sich verunsichert bzw. sehr verunsichert fühlen. Prof. Dr. Henning Goersch, Lehrstuhlinhaber für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement an der Akkon Hochschule berichtet gegenüber tageschau.de, dass interessanterweise trotz der empfundenen Gefährlichkeit des Virus, die Existenzbedrohung mit 14,8% an erster Stelle der belastenden Befürchtungen genannt worden sei. Dahinter kämen die Befürchtung, dass Mitmenschen sich nicht an die aktuellen Regeln halten (12,3%), die Angst vor Kontakteinschränkungen und Einsamkeit (7,9%), die Angst vor Hamsterkäufen (4,6% - Platz 6). Er danach käme die Angst vor Ansteckung und Erkrankung (4,1% - Platz 8)

Die mögliche Existenzbedrohung kann wiederum weitreichende Folgen haben. So verrät der Medizinsoziologe Nico Dragano in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass aus Studien der letzten Weltwirtschaftskrise ab 2007 hervorgeht, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit einer substanziellen Zunahme von psychischen Krankheiten und typischen Volkskrankheiten, wie Herz-Kreislauf-Leiden einhergegangen sei. Akute psychische Krisen und Suizidalität drohten. Auch wenn wir jetzt noch keine Daten zu den indirekten Langzeiteffekten der Corona-Krise haben, fordert er Sofortreaktionen im Bereich der psychischen Gesundheit. Es sei essenziell, Menschen mit Vorbelastung gut zu versorgen.

Nicht nur allein die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen spielen eine Rolle. Erkrankt eine Person an Covid-19 oder steht in Verdacht zu erkranken, muss diese in Quarantäne. Jedoch können die Folgen von zu langer Quarantäne verheerend sein, so quarks.de. Ein Review von Brooks et al. (2020) zeigt, dass die meisten Untersuchungen zur Auswirkung von Quarantäne negative psychologische Effekte wie post-traumatische Stress-Symptome, Verwirrung und Wut durch lange Quarantänezeiten, Infektionsängste, Frustration, Langeweile, nicht ausreichende Vorräte, unzureichende Information, finanzieller Verlust und Stigma nachgewiesen haben.

Warum dem so ist, versuchen Psychologen und Psychologinnen nun zu erklären. Homeoffice, soziale Isolation und Ausgangssperren würden dem Wesen des Menschen widersprechen, vermutet so z. B. Psychologie-Professor Jürgen Margraf. Menschen, die isoliert sind, fühlten sich schnell abgeschnitten, einsam und damit einhergehend auch ängstlich und depressiv. Zwar könne eine kurzzeitige Isolation sich auch positiv auswirken, langfristig folgten aber negative Reaktionen. Insbesondere introvertierten Personen würden langfristig mehr Schwierigkeiten haben, ihr soziales Netz zu pflegen.

Psychologin Ramani Durvasula erklärt in einem Interview mit Deutschlandfunk, dass außerdem eine moralische Übermüdung für Energie- und Konzentrationsverlust verantwortlich sein könnte. Alltägliche Handlungen wie Einkaufen, die normalerweise ohne zusätzliche kognitive Anstrengungen möglich seien, würden jetzt mehr Energie kosten, als uns bewusst sei. Überlegungen, ob wir möglicherweise jemand anderem schaden könnten, würden nun parallel ständig mitlaufen. „Vielleicht müssen wir verstehen, dass wir nicht so produktiv sind, wie wir dachten. Das Konzept der moralischen Übermüdung kann uns helfen, zu erkennen, warum wir plötzlich so leicht die Geduld verlieren, wir schneller frustriert sind, warum wir plötzlich streiten. Das passiert, wenn unsere kognitive Bandbreite erschöpft ist.“, so Durvasula.

Die Psychologin Ursula Gasch kritisiert wiederum den Begriff der „Corona-Ferien“. Kurz und mittelfristig könne die Lage zu Angst und Schlafstörungen, aber auch zu Langeweile, Einsamkeit und Depression mit Gefühlen der Ausweglosigkeit führen, meint sie. Aufforderungen wie „Heult leise!“ sind daher nach Meinung des VPP auch bei Beschwerden über Home Office und Langeweile alles andere als angebracht.

Wut, Ärger, Frustration und Verunsicherung böten laut Gasch Potenzial für Aggressionen und Suchtmittelmissbrauch. Auch dies habe weitreichende Folgen. Kontrollverlust und Mangel an Sozialkontakten machten Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen Sorge, die mehr Gewalt und Suizide durch die Ausgangsbeschränkungen befürchten. Die Berliner Gewaltschutzambulanz warnt vor einem starken Anstieg von Kindesmisshandlungen, häuslicher und innerfamiliärer Gewalt. Die soziale Kontrolle sei nicht gegeben, da Schulen, Kitas und Tagebetreuung derzeit wegfielen, so Vizechefin Saskia Etzold. Sich Hilfe zu suchen, sei derzeit besonders schwierig, so Gasch. Sie fordert daher mehr Aufmerksamkeit für Beschäftigte im Gesundheitswesen.

Kein Wunder also, dass es auch Befürworter von Shutdown-Lockerungen gibt. „Auf chronisch Kranke und Personen mit psychischen Problemen müssen wir jetzt besonders Acht geben.“, so Hausarzt Dr. Til Uebel. Er sowie seine Kolleginnen und Kollegen geben zu bedenken, dass die medizinischen Folgen des Shutdowns unter anderem vergessen worden seien, weil Hausärzte und Hausärztinnen dazu nicht befragt worden seien. „Es geht nicht darum, die Krise zu verleumden“ betont Uebel. Der Schutz könne jedoch auch durch andere Maßnahmen und Programme als einen Shutdown sichergestellt werden. Auch Epidemiologe Gérard Krause warnt vor den indirekten Folgeschäden. Auch wenn solche Folgen nicht direkt berechenbar seien, würden sie dennoch stattfinden und möglicherweise schwerwiegender sein als die Folgen der Infektionen selbst.

Julia Zick