Der Beitrag von Isa Julgalad skizziert einen Einblick in Erfordernisse der Arbeit mit Opfern von Terrorereignissen und stellt eine Best-Practice-Lösung vor.
Opfer von Terrorereignissen sind nach dem Psychologischen Psychotherapeuten Rainer Rothe, der Opfer der Anschläge von Nizza und dem Berliner Breitscheidplatz unterstützt, dreifach geschädigt: durch die traumatische Situation, durch den Umgang von Versicherungen und Behörden mit den Opfern (z. B. Ablehnung von Anträgen und durch Aufklärungsversäumnisse (Wie kam es zu der Tat? Werden Verantwortliche wenigstens auf dem Rechtsweg verurteilt?). Dies mündet oft in Verunsicherung, Misstrauen, Hilflosigkeit bis hin zu Suizidgedanken und zur Chronifizierung des Traumas. Der Dipl.-Psych. Rainer Rothe wendete sich daher zusammen mit einer Sprecherin der Hinterbliebenen und Ersthelfern vom Breitscheidplatz in einem offenen Brief an die Politik.
Flickenteppich der Versorgungslandschaft
Probleme machen die Mängel in der Versorgung. Diese bestehen beispielsweise in der fehlenden zeitnahen Versorgung. So dauert ein Antrag auf Traumatherapie beim Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin bis zur Bewilligung zum Teil fünf Monate, die Bewilligung von geeigneten Reha-Maßnahmen (Traumatherapie stationär) ist langwierig. Dies sind Monate, die für Opfer schwerer psychischer und körperlicher Gewalterlebnisse entscheidend sein können und ohnehin geschädigte Opfer zusätzlich belasten. Die Fachveranstaltung "... wen(n) Terror trifft“ des Bundes Deutscher Kriminalbeamter e.V. brachte zahlreiche Akteure zusammen und machte die Politik auf einen Handlungsbedarf und bestehende Versorgungslücken aufmerksam.
Bei Terroropfern und zahlreichen Opfer von Gewalttaten entwickelt sich unmittelbar oder im Verlauf der Symptomatik der Wunsch auf eine spezialisierte Traumatherapie ohne lange Wartezeiten. Es gibt eine Anerkennung des Leids in Solidaritätsbekundungen, in der Installation von Opferschutzbeauftragten und in Form zahlreicher Töpfe. Um theoretisch an diese Finanzierung heranzugekommen, braucht es das Wissen um diesen Finanztopf, bedarf es „guter Nerven“, um den Antrag auszufüllen, und um die Ungewissheit während der langen Bearbeitungsdauer auszuhalten. Über die Solidaritätsbekundungen und unterstützende Lotsen und Beauftragte hinaus braucht es eine Vereinfachung des Systems, um einfach und zeitnah traumaspezialisierte Unterstützung zu vermitteln.
Ein Lösungsweg aus der Berufspraxis
Das folgende Best-Practice-Modell kenne ich als Behandlerin. Seine Wirkung überzeugt mich. Die Prozesse werden realisiert durch die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Frau M. erlebt während ihrer Tätigkeit an der Kasse einen Raubüberfall. Sie hat Todesangst, während der Täter sie bedroht. Direkt nach dem Ereignis kommen ihre Chefin oder Personen des Betriebsrates zu ihr und bieten ihr aktiv an, dass sich in den nächsten Tagen eine traumaspezialisierte Psychologin oder traumaspezialisierter Psychologe oder eine spezialisierte Psychotherapeutin oder spezialisierter Psychotherapeut bei ihr melden würde. Die Betroffene kann ja, nein oder vielleicht sagen. In letzteren Fall würde sie später noch einmal gefragt werden, in unserem Fall stimmt sie zu. Der Berufsgenossenschaft wird gemeldet, dass es ein belastendes Ereignis gab und einer Akutintervention zugestimmt wird. Die Berufsgenossenschaft besitzt ein Netzwerk bzw. eine Kooperation mit einem Netzwerk, an das der Auftrag weitergegeben wird.
Wenige Stunden nach dem Ereignis übernimmt eine traumaspezialisierte Expertin oder ein traumaspezialisierter Experte aus diesem Netzwerk den Fall. Gemäß der internen Richtlinien erfolgt die erste Kontaktaufnahme innerhalb von 24 Stunden nach dem Raubüberfall. Frau M. wird angerufen, man stellt sich ihr vor und sie darf wählen, wann sie die Gespräche haben möchte. Zahlreiche Betroffene wollen erst mal ein paar Tage vergehen lassen, um sich zu beruhigen und bitten darum, den Gesprächstermin 3-4 Tage später zu haben. Einzelne Betroffene möchten eine sofortige Gesprächsmöglichkeit, diese bekommen sie dann. Auch polizeiliche Vernehmungstermine beeinflussen, zu welchen Zeitpunkt Betroffene den Termin einplanen möchten.
Frau M. wird zum Ereignis am Telefon nicht "ausgefragt". Sie ist, bevor ihr das Angebot einer Akutintervention unterbreitet worden ist, auch nicht „ausgefragt" worden. Es ist wichtig, zuerst eine „Unterstützung“ und einen stabilisierenden Kontakt aufzubauen. Anschließend kann Frau M. im Live-Gespräch mit der traumaspezialisierten Expertin oder dem Experten wählen, ob und wie sie konkret sie über das Ereignis sprechen möchte. Es ist möglich, dass Frau M. eine klassische Symptomatik von Schlafstörungen, Flashbacks, Hyperarousal, Albträumen, großen Sicherheitsbedürfnis, Vermeidungsverhalten zeigt und eine traumatherapeutische Weiterbehandlung braucht. In diesem Fall würde die traumaspezialisierte Expertin oder der traumaspezialisierte Experte an die Berufsgenossenschaft die Symptomausprägung und die Einschätzung eines Therapiebedarfs kommunizieren.
Die Berufsgenossenschaft würde Frau M. schnellstmöglich einen Brief mit einer Therapeutenliste nach Hause schicken. Diese beinhaltet Therapeutinnen und Therapeuten, die alle traumaspezialisiert sind und eine Approbation und einschlägige Behandlungserfahrung besitzen. Sie müssen keinen Kassensitz besitzen. Eine frustrierende Therapiesuche über Monate bleibt Frau M. so erspart. Die Berufsgenossenschaft erkundigt sich zudem, wenn längere Zeit später noch kein Therapieantrag zu ihrer Person beim Sachbearbeiter eingeht. Diese Liste ermöglicht eine kurze Wartezeit, die erste Therapiesitzung findet in der Regel innerhalb von wenigen Wochen statt. Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik wählt oft diesen Weg. Eine Arbeitsunfähigkeit und Chronifizierung aufgrund verpasster Chance wird vermieden. Es ist besser, Menschen zu behandeln und Berufsunfälle körperlicher und seelischer Natur fachlich spezialisiert und unmittelbar zu behandeln. Menschen erhalten ihre Lebensqualität zurück.
Ein Beitrag von Isa Julgalad