Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

Fit für die ICD-11 – Paradigmenwechsel bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen?

Am 26. April 2023 fand erneut eine Fortbildung im Rahmen der Vierverbände-Kooperation statt. An der digitalen Veranstaltung unter dem Titel „Fit für die ICD-11 – Paradigmenwechsel bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstörung?“ nahmen rund 400 Personen teil.

Referent Alexander Hartig gab in seinem Referat einen Überblick über das neue Klassifikationssystem ICD-11 und die Veränderungen zur ICD-10 und legte dabei den Schwerpunkt auf den Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Im Anschluss wurden Fragen aus dem Plenum beantwortet und zusammen mit Vertreter:innen der ausrichtenden Verbände lebhaft über die Auswirkungen für die Praxis diskutiert.

Entwicklung und Einführung der ICD-11

Zu Beginn seines Vortrags gibt Hartig einen historischen Abriss über die Entwicklung der ICD-11, die bereits 2007 begonnen hat. 2019 wurde sie von der WHO angenommen und im letzten Jahr ist sie in den Mitgliedsstaaten der WHO in Kraft getreten. Die Implementierung in Deutsch­land ist jedoch hochkomplex, u. a. weil viele etablierte Prozesse wie der morbiditäts­bedinge Risikostrukturausgleich auf der ICD-10-GM (German Modification) beruhen. Es ist realistisch, dass auch die geplante Übergangszeit von fünf Jahren überschritten werde. Das heiße aber nicht, dass wir die ICD-11 nicht bereits nutzen können. Eine vorläufige Fassung gibt es bereits online auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukt (BfArM). Eine Veröffentlichung in Buchform ist nicht geplant.

Innovationen und strukturelle Veränderungen

Störungen werden zukünftig zwar beschrieben und Kriterien benannt, arbiträre Cut-Offs, Symptomcounts und Zeitvoraussetzungen werden jedoch vermieden (mit Ausnahmen z. B. Borderline-Störung). Diagnosegrenzbereichen wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet, ebenso kulturbedingten und geschlechtsbedingen Symptomvarianten. Für Autismus-Spektrum-Störungen und Persönlichkeitsstörungen wurde ein dimensionales Modell eingeführt.

Die Kapitelstruktur wurde ebenfalls verändert. Die F9-Kategorie (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) ist gestrichen worden, die einzelnen Störungen sind jetzt den jeweiligen Störungsbereichen zugeordnet, ebenso wurde mit den Störungen aus dem alten Kapitel F4 (Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) verfahren. Einige neue Kapitel subsummieren psychische wie somatische Störungen und bilden einen eigenen Bereich, z. B. Schlafstörungen und Zustände mit Bezug auf sexuelle Gesundheit. Hier wird deutlich, dass sich auch bezüglich der Abrechnung Strukturen ändern müssen (bisher nur F-Diagnosen).

Kodierung

Die meisten psychischen Störungen werden zukünftig im Kapitel 6 (Mental, Behavioral or Neurodevelopmental Disorders, MBND) der ICD-11 zu finden sein. Es wird zwischen Stamm- und Erweiterungscodes unterschieden (analog zusätzlicher Codierung des somatischen Syndroms in der ICD-10). Erweiterungscodes sind jetzt für viele Störungen möglich und sollen die klinische Kommunikation verbessern, für Beantragungsverfahren etc. sind die Stammcodes gedacht.

Beispiel:

Stammcode: 6A20.A Schizophrenie, erste Episode

Erweiterungscodes: 6A25.0/6A25.1 Positiv- und Negativsymptomatik

Neue Begriffe und Störungen

Einige Begrifflichkeiten wurden geändert, Intelligenzminderungen werden jetzt Störungen der Intelligenzentwicklung, soziale Phobien soziale Angststörung und die Multiple Persönlichkeitsstörung Dissoziative Identitätsstörung genannt. Wenn Wahn besser durch eine nicht-psychotische Störung erklärt werden kann, soll diese vergeben werden. Außerdem gibt es einige neue Störungen bzw. Diagnosen: Olfactory Reference Disorder, Gaming Disorder, Pathologisches Horten, Bodily Distress Disorder (alle somatoformen Störungen außer Hypochondrie, diese jetzt wie auch die körperdysmorphe Störung unter Zwangsspektrumstörung), Komplexe PTBS, Partielle dissoziative Identitätsstörung, Binge Eating Disorder, Störungen mit zwanghaftem Sexualverhalten, Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (ARFID), Körper-Integritäts-Identitätsstörung.

Geschichte der Persönlichkeitsstörungen

Im frühpsychiatrischen Zeitraum bis ca. 1980 wurden unter überwiegend psychodynamischen Einflüssen die Charakterneurose definiert, die geprägt war durch Konfliktabwehr im Außen und fehlender Ich-Dystonie. Diese Sicht schlug sich im DSM-I (1952) und im DSM-II (1968) nieder. Mit dem DSM-III (1980) wurden Achsen, Cluster und Kategorien eingeführt, die zum DSM-IV (1994) nur „kosmetisch“ verändert wurden. Im Vorfeld der Veröffentlichung des DSM-V (2013) gab es vielfältige Diskussionen, jedoch schließlich keine konsequente Abschaffung des kategorialen Systems. Das erfolgte dann in der post-DSM-Generation erstmals mit der ICD-11. Es wurde stattdessen ein traitbasiertes, dimensionales Modell eingeführt.

Kontroversen rund um die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Die fünf zentralen Kritikthemen sind Komorbidität, Heterogenität, Chronizität, Ichdystonie vs. Ichsyntonie, Stigmatisierung. Taxonomien wären nur dann wirklich sinnvoll, wenn sich die Kategorien (überwiegend) gegenseitig ausschließen würden. Nach DSM/ICD-10 hingegen wurden Kategorien kreiert, obwohl es sich dabei nur um leicht unterschiedliche Manifestationen (geteilter) zugrundliegender Prädispositionen handelte. Hartig verdeutlicht dies an anschaulichen Beispielen aus Musik und Literatur. Heterogenität meint hier, dass zwei Personen die spezifischen Kriterien der gleichen Persönlichkeitsstörung (PS) nach DSM erfüllen können, ohne dass sie ein einziges Symptom teilen. Mittlerweile gebe es wissenschaftliche Befunde, die wenig Hinweise auf den überdauernden Charakter der PS geben und damit die Chronizität infrage stellen, so lässt der Leidensdruck im Verlauf der Lebensspanne häufig nach. Auch sind PS gemäß moderner Forschungsergebnisse nicht zwingend durch Ichsyntonie geprägt. Kritisch diskutiert wird auch, ob eine (drohende/befürchtete) Stigmatisierung eine Unterdiagnostik zur Folge hatte.

Das neue Modell zur PS-Diagnostik

Das Vorgehen erfolgt in drei Schritten: Prüfung, ob 1) die allgemeinen Kriterien erfüllt sind, 2) Schweregradbestimmung (kodiert als 6D10.0-2) und 3) Feststellung, welche Traits vorliegen (6D11.0-6). In einem potenziellen vierten Schritt kann ergänzend Borderline diagnostiziert werden, dies soll aber nicht isoliert ohne die vorherigen Schritte.

Die allgemeinen Kriterien verzichten auf die Definition vor Zeitbereichen. Relevant sind auf dieser übergeordneten Ebene aber die Manifestation der Problematik auf der kognitiven, emotionalen sowie Verhaltensebenen, die zu erheblichem Stress oder einer signifikanten Beeinträchtigung führt. Eine wichtige Veränderung zum früheren Vorgehen, ist insbesondere auch bei der Bestimmung des Schweregrads zu finden. Bei einer leichtgradigen PS sind einige Lebensbereiche betroffen, andere aber nicht, auch sind zumindest einige soziale Kontakte stabil, es kommt nicht zu substanziellen Selbst- oder Fremdbelastungen und entweder massive Belastungen in einzelnen Funktionsbereichen oder milde Belastungen in vielen Funktionsbereichen. Das steigert sich dann bei der mittelgradigen und schweren Ausprägung. Die übergeordneten Traits sind: Negative Affektivität, Distanziertheit (sozial, emotional), Dissozialität (Egozentrik, mangelnde Empathie), Enthemmung, Anankasmus und Borderline.Hartig illustriert das Vorgehen anhand eines Fallbeispiels und vermittelt den Teilnehmenden so ein erstes Gespür für die Anwendung des neuen Modells und lädt zur Diskussion weitere Falldarstellungen ein.

Diskussion

Aus dem Plenum kamen neben einer Reihe von Fragen. Einige Diskussionsbeiträge seien exemplarisch berichtet. Diskutiert wurde, inwieweit das neue Modell der PS-Diagnostik wirklich der Entstigmatisierung entgegenwirken könnte. Während die Kommunikation gegenüber den Betroffenen selbst nun eher positiv gesehen wird, äußerte die Mehrheit jedoch weiter Bedenken. Die Auswirkungen von Nicht-Kodierung auf zukünftige Therapiekontingente einerseits und die Verbesserung der Möglichkeit, schwierige Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der tiefenpsychologischen fundierten Psychotherapie zu behandeln, wie es von Peter Hüsgen (DGPT) eingebracht wurde, wurden gegen die „Etikettierung“ von Patient:innen abge­wogen.

Hartig erklärt auf Nachfrage, dass die neue Diagnose der komplexen PTBS eine Reihe von Überschneidungen mit PS aufweist, letzte soll aber nur diagnostiziert werden, wenn dadurch ein Benefit für die Betroffenen entsteht. Gemäß ICD-11 soll eine Primärdiagnose vergeben werden, die dann auch behandlungsleitend sein soll. Irritation gibt es wiederholt über die Sonderrolle der Borderline-PS. Hartig erläutert, dass diese Sonderkategorie nicht notwendig gewesen wäre, sondern in der vorhandenen Klassifikation aufgehen würde, so sei es auch geplant gewesen. Die jetzige Fassung war eine Reaktion auf massiven Protest. Die Abgrenzung der bisherigen Persönlichkeitsakzentierung von leichten Persönlichkeits­störungen scheitert ein Stück weit daran, dass erstere im ICD-10 nicht genau bestimmt ist (und auch nicht im F-Kapitel verortet wird). Im Erwachsenenbereich scheint es naheliegend, zukünftig häufiger eine leichte Persönlichkeitsstörung festzustellen, die Umsetzung im Kinder- und Jugendbereichen wird jedoch kritisch hinterfragt. „Dieses Dilemma bleibt bestehen“, so Hartig.

Am Beispiel von ADHS wird deutlich, dass die Grenze zwischen Achse-I und Achse-II-Störungen weniger scharf ist. Auch bisher gab und gibt es Schnittmengen z. B. mit der Dysthymie und Autismus-Spektrum-Störungen. Jetzt schon zu beginnen, in den neuen Kategorien zu denken, wird vorgeschlagen und von Hartig deutlich begrüßt. Wie sich dies praktisch im Kodierverhalten nach ICD-10 („kombinierte Persönlichkeitsstörung“) niederschlagen könnte und welche Konsequenzen das u. a. im Gutachterverfahren hat, lässt sich nur vermuten. Der Tipp von gutachterlich tätigen Kolleg:innen: Wichtig ist die gute Beschreibung der Syndrome, nicht nur bei den PS, sondern auch im Zusammenhang mit beispielsweiser komplexer Persönlichkeitsstörung.

Johanna Thünker

 

Literatur

  • Bach, B. & First, M.B. (2018). Application of the ICD-11 classification of personality disorders. BMC psychiatry, 18(1), 1-14. (free article)
  • Videozusammenfassung von Bo Bach (englischsprachig)