Ein psychoanalytischer Kommentar von Damaris Sander
Die derzeitige Krise stellt uns vor die Herausforderung, als selbst von der Krise Betroffene weiterhin unsere Patientinnen und Patienten gut zu versorgen.
Die Krise fördert bei uns allen regressive Prozesse, denn es gibt viel Unsicherheit, Ansteckungsängste und wirtschaftliche Sorgen. Wer von Ihnen schon einmal in einer persönlichen Krise den Beruf als Therapeut oder Therapeutin ausgeübt hat, weiß, wie schwierig es sein kann, die therapeutische Haltung aufrechtzuerhalten, wenn man mit eigenen Problemen beschäftigt ist. Wir alle kennen außerdem den Fall, dass wir eine Person nicht in Behandlung genommen haben, weil ihre Problematik einem Thema von uns zu nah kam.
Was können wir also in der aktuellen Situation tun, um unsere therapeutische Haltung zu bewahren, das heißt unsere Stabilität zu erhalten, so dass wir uns den Problemen der Patient*innen weiterhin gut zuwenden können?
Physische Sicherheit
Auf unsere physische Sicherheit zu achten hat Priorität. Die aktuelle Situation wird möglicherweise lange andauern, die Patient*innen werden uns auch zukünftig brauchen, wir sollten also gesund bleiben.
Klare Regeln für die Hygiene in der Praxis sorgen für Sicherheit– einen beispielhaften Plan einer Psychotherapiepraxis finden Sie auf unserer Homepage - sowie weitere Verhaltensregeln für Behandelnde und Patient*innen in Psychotherapiepraxen.
Ein Warnsignal dafür, dass die therapeutische Haltung gefährdet ist, ist zum Beispiel, wenn in der Sitzung die Aufmerksamkeit wegdriftet vom Patienten oder der Patientin hin zu Befürchtungen, das Gegenüber könnte ansteckend sein, oder sich Zweifel aufdrängen, ob die Sessel weit genug entfernt sind voneinander. Das würde heißen, dass der Therapeut oder die Therapeutin sich nicht sicher fühlt und von daher der innere Raum dafür, die Affekte der Patientin aufzunehmen, eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden ist. Dieses Signal könnte man dahingehend aufgreifen, entweder die Verhaltensregeln anzupassen, oder, wenn dies nicht möglich ist und die eigenen Befürchtungen ständig im Vordergrund sind, die Praxis vorerst für Präsenztermine zu schließen.
Psychische Stabilität
Wir sind zur Zeit in hohem Maße gefragt, Gefühle von Unsicherheit und Angst, Ohnmacht, Insuffizienzgefühle und Existenzsorgen zu containen, also von den Patientinnen und Patienten aufzunehmen, sie zu „verdauen“ und sie in verträglicher Form zurückzugeben bzw. widerzuspiegeln . Wir sollten nicht unterschätzen, dass das Kraft kostet, zumal wir selber mit diesen Gefühlen umzugehen haben. Eine eigene Instabilität macht uns empfänglicher dafür, uns von Affekten der Patienten „infizieren“ zu lassen. Das ist völlig normal. Wir sollten es allerdings bemerken und bei Bedarf Gegenmaßnahmen ergreifen.
Wenn starke Gefühle von Angst oder Hilflosigkeit aufkommen, ist das ein Alarmsignal. Möglicherweise rühren dann Ängste des Gegenübers an eigene Ängste, so dass das nicht mehr gut voneinander getrennt werden kann und die therapeutische Haltung „wackelt“.
Um diese Haltung wiederherzustellen und mögliche projektive Identifikationen aufzulösen, hilft das, was in normaleren Zeiten auch hilft: Intervision oder Supervision. Qualitätszirkel lassen sich gut auch per Videokonferenz durchführen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen arbeiten derzeit an technischen Angeboten dafür. Bis diese zur Verfügung stehen, kann man sich mit anderen Lösungen behelfen. Dann sollte allerdings strikt auf eine Anonymisierung der Fallbesprechungen geachtet werden. Auch der Austausch in Foren kann helfen, sich von den Affekten der Patientinnen oder Patienten wieder zu distanzieren.
Hilfreich ist außerdem, mit instabilen Patienten klare Absprachen zu treffen und diese gut zu dokumentieren . Achten Sie zudem auf Ihre Belastungsfähigkeit. Die aktuelle Situation macht unsere Arbeit anstrengender als sonst. Es kann sinnvoll sein, das Arbeitspensum herunterzufahren oder mehr Pausen einzuplanen.
Wichtiger, aber auch schwieriger als gewöhnlich, ist der gute Ausgleich zur Arbeit nach Feierabend durch ein unterstützendes Umfeld und genussvolle Aktivitäten. Viele Tipps für die Selbstfürsorge in Zeiten der sozialen Isolation finden Sie im Netz.
Materielle Stabilität
Eine Therapeutin , die sich um die Existenz ihrer Praxis akute Sorgen macht, hat natürlich weniger Ressourcen für ihre Patientinnen und Patienten. Viele Psychotherapiepraxen erleiden durch die jetzige Krise erhebliche Umsatzeinbußen. Aber es laufen auch Hilfsmaßnahmen an, und Unterstützungspakete werden verabschiedet. Gegen Existenzsorgen hilft vor allem: Informieren Sie sich aus seriösen Quellen, und fragen Sie um Rat, beim Berufsverband, der Kammer, KV und Kolleg*innen. Scheuen Sie sich nicht, für sich etwas zu fordern! Der VPP wiederum setzt sich für Entschädigungen unseres Berufsstandes ein.
Die materielle Sicherheit betrifft auch die Technik: wir sind jetzt mehr als zuvor auf technische Hilfsmittel wie Videochats und Telefon angewiesen. Machen Sie sich mit der Technik vertraut, und halten Sie einen Plan B bereit, wenn etwas nicht funktioniert. So lässt sich eine Videositzung, bei der die Verbindung abbricht, auch telefonisch fortsetzen.
In diesem Sinne: passen Sie auf sich auf, bleiben Sie gelassen, und bleiben Sie gesund!
Dipl.-Psych. Damaris Sander