Am 6. November 2018 fand in Berlin die Auftaktveranstaltung „Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen“ statt. Gastgebende der Veranstaltung waren das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und die Aktion Psychisch Kranke e. V. (APK).
Zum Hintergrund
Innerhalb der jetzigen Legislaturperiode soll eine ExpertInnenkommission gegründet werden, um eine Standortbestimmung durchzuführen, Entwicklungsbedarfe festzustellen und Handlungsempfehlungen für eine personenzentrierte Versorgung zu konzipieren. Geplant sind mehrere Veranstaltungen mit 30 Impulsbeiträgen, ein ExpertInnenbeirat sowie Workshops im Vorfeld. Vorschläge und Statements der verschiedenen Interessensgruppen sind erwünscht.
Teilnehmende aus vielen Bereichen
Weit über 200 Vertreterinnen und Vertreter aus den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens folgten der Einladung des BMG und der APK zum Dialog, unter anderem aus der Politik, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und dem GKV-Spitzenverband, aus Netzwerken, Hochschulen, Kliniken, Praxen und nicht zuletzt von vielfältigen Selbsthilfevereinen.
Bereits hohes Versorgungsniveau
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Dr. Thomas Stracke, Leiter des Referats Psychiatrie, Neurologie und Pädiatrie im BMG, mit den Worten: „Jeder, der aufgrund einer psychischen Erkrankung der Hilfe bedarf, kann diese durch die gesetzlichen Kassen bekommen.“ Stracke betonte das generell hohe Niveau der Versorgung in Deutschland. Nun komme es auf Qualität und Zweckmäßigkeit an, daher der geplante Dialog und die Vernetzung.
Von Seiten der APK wurden die stetige Entwicklung und der Fortschritt der Humanisierung der Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten betont. Mit Blick auf Themen wie die Teilhabe behinderter Menschen, die Pflege, die Geronto- und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie den Maßregelvollzug sei diese jedoch noch ausbaufähig. Die Selbsthilfe habe sich über die Jahre hinweg stark organisiert und partizipiert.
Diskussion zur Versorgungsverbesserung
Aktuelle epidemiologische Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) weisen eine Diskrepanz der Evidenzen psychischer Störungen gegenüber denen der gesetzlichen Krankenversicherungen auf. Bliebe die Prävalenz von Depression über den Untersuchungszeitraum weitestgehend stabil, stiegen sie bei den Untersuchungen der Krankenkassen an. So wurde auf strukturbedingte epidemiologische Unterschiede aufmerksam gemacht und wurden systembedingte Fehldiagnosen im Alter vermutet.
Ein Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) stellte fest: Nach der aktuellen Bedarfsplanung sei Deutschland im Bereich der Psychotherapie überversorgt, und die Zahl der Behandelnden sei innerhalb der vergangenen 15 Jahre steigend (nur Kopf-, nicht Zeiterfassung). Dennoch gäbe es „erhebliche Wartezeiten“ und einen Aufbau von stationären Behandlungsplätzen. Der Sachverständige vermutet mehrere Gründe: Unter anderem sei die Inanspruchnahme von Psychotherapie gestiegen. Jüngere Therapeutinnen und Therapeuten würden zudem nicht mehr 60 Stunden pro Woche arbeiten wollen. Und das ambulante Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft. Das Versorgungsstärkungsgesetz beteilige Psychotherapeutinnen und -therapeuten mehr und ermögliche zusätzliche Zugänge für Patientinnen und Patienten (z.B. Telefonsprechstunde). Die Testphase PsychVVG sorge für neue und modernere Ansätze (z.B. Kombination ambulante und stationäre Versorgung), jedoch spiele das Case Management momentan in den Kliniken überraschenderweise (noch) keine große Rolle.
Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration Baden-Württemberg, betonte Erfolge in Baden-Württemberg (z.B. Planung Krisen- und Notfalldienste) und forderte: „Wir benötigen eine verbindliche Verantwortungsstrukturkultur.“ Zugangsschwellen müssten herabgesetzt werden, der Sicherstellungsauftrag solle wieder ernster genommen werden, temporäre Hilfen und gemeindepsychiatrische Verbünde seien einzusetzen – und dies am besten auf Landesebene. Hierzu sei der Dialog mit den Betroffenen nötig, nicht mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), da es nicht nur um Kalkulationen gehe.
Kommentare der Teilnehmenden
Im Rahmen von verschiedenen Gesprächsrunden wurde unter anderem die „Konkurrenz“ zwischen ambulanten und stationären Angeboten in Frage gestellt und wurden dezentrale Krisensysteme thematisiert. Vonseiten des GKV-Spitzenverbands wurde erneut der Vorwurf laut, Therapeutinnen und Therapeuten würden Patientinnen und Patienten selektieren. Der Patientinnen- und Patientenvertreter der G-BA kritisierte die schleppende Kommunikation mit dem Gremium. Selbsthilfestrukturen wünschen sich mehr Beachtung und Beteiligung. Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (BApK) bringt die Bedürfnisse der Betroffenen und Angehörigen über das SGB V hinaus ein und wird dabei von der Deutschen Depressionsliga e. V. (DDL) unterstützt, die auch das fehlende Stimmrecht der Vertreterinnen und Vertreter der Patientinnen und Patienten im G-BA monierte. Die Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege e. V. (DFPP) gab zu bedenken, dass der Bedarf nicht von zwei Berufsgruppen (Ärztinnen bzw. Ärzten, Psychotherapeutinnen bzw. Psychotherapeuten) alleine gedeckt werden könne. Gerade in der niederschwelligen Psychotherapie könne die Pflege, die größte Berufsgruppe in diesem Dialog, mitwirken. Der Verein EX-IN forderte die Anerkennung der Genesungsbegleiterinnen und -begleiter.
Von Seiten der BPtK wurde betont: „Es gibt manchmal Reformen, die sind schon da.“ Durch die im April 2017 eingeführte Sprechstunde liege die Wartezeit im Bundesdurchschnitt mittlerweile bei 5,7 Wochen. Es gebe eine erhebliche Versorgungsverbesserung, diese sei niederschwelliger und breiter (Akutversorgung) geworden. Bei der Bedarfsplanung sehe man dennoch Verbesserungsbedarf, eine partizipative Entscheidungsfindung seitens der BPtK sei wünschenswert, Betroffene sollten einbezogen werden.
Psychologische Psychotherapie unterrepräsentiert
Insgesamt waren Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf der Veranstaltung unterrepräsentiert, es herrschte der Ton, dass es weiterer Kontrollinstanzen bedarf (siehe aktueller Gesetzesentwurf zum Terminservice- und Versorgungsgesetz; TSVG). Eine weitere Partizipation unseres Berufsstandes ist wichtig!
Julia Zick