Psychische Erkrankungen sind die neuen Volkskrankheiten
Der Verband Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (VPP) nimmt Stellung zum aktuellen Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Institutes und dem Vorwurf der "Selbstbezogenheit" gegenüber den Psychotherapeuten von Professor Hans-Ulrich Wittchen im FOCUS Magazin (25/2012).
Eine aktuelle Studie des Robert-Koch-Instituts (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" (DEGS)) zeigt, dass jeder vierte Mann und jede dritte Frau unter einer psychischen Erkrankung leidet. Am häufigsten sind dabei depressive Erkrankungen und Angststörungen vertreten.
Die Daten zur psychischen Gesundheit wurden mit einem Fragebogen und einem computergestützten Interview erhoben. 8,1 % der DEGS-Teilnehmenden berichteten von aktuellen Symptomen einer Depression und 1,5 % der Teilnehmenden gaben an, dass ein Arzt oder Psychotherapeut bei ihnen in den letzten zwölf Monaten ein Burn-out-Syndrom festgestellt hat. Das Thema psychische Gesundheit wurde in einem Zusatzmodul bei 5.318 Teilnehmenden vertieft. An diesem Modul waren ein Team um Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden, das RKI und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), die das Modul auch mitfinanziert hat, beteiligt.
Der Professor für Psychologie Wittchen warf den deutschen Psychotherapeuten im Nachrichtenmagazin FOCUS „eine gewisse Selbstbezogenheit" vor. Er kritisierte, dass die wissenschaftlich besten Verfahren oft nicht eingesetzt würden und es an einer optimalen Steuerung fehle. Zudem warf er dem Berufsstand vor, er lehne eine unabhängige Qualitätssicherung ab. Man solle doch jeden Psychotherapeuten ca. drei Hausärzten zuordnen, deren Patienten er dann mit- und weiterbehandeln müsse.
Hier merkt der VPP an: Der Psychologieprofessor ist offenbar so weit von der Praxis entfernt, dass ihm nicht bekannt zu sein scheint, dass die meisten der Patienten mit komorbiden Störungen in die Praxis kommen und selten mit einer abgegrenzten Angststörung oder Depression. Daher sind Manuale, die in der Wissenschaft unter Laborbedingungen meist untersucht werden, da ansonsten keine Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Behandlern hergestellt werden kann, nur sehr begrenzt tauglich für die tägliche Praxis.
Die TK-Studie, die die Psychotherapie unter realen Versorgungsbedingungen auch mithilfe psychometrischer Verfahren untersucht hat, hat hervorragende Ergebnisse für die Wirksamkeit von Psychotherapie gezeigt, die ansonsten ihresgleichen suchen in anderen Bereichen der Medizin. Wenn Therapiedauern in anderen Ländern kürzer sind, muss das nicht heißen, dass diese Behandlungen dann auch ausreichend sind, wie wir es in Deutschland auch von privaten Krankenversicherungen kennen, die häufig geringere Stundenumfänge finanzieren als die GKV. Seit der case-report-Studie von Seligman ist erwiesen, dass Langzeittherapien weitaus bessere und vor allem nachhaltigere Ergebnisse erzielen als Kurzzeittherapieverfahren und dass in der Behandlung keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Verfahren festgestellt werden konnten. In der GKV prüft das Gutachterverfahren, das sich in der TK-Studie dem Qualitätsmonitoring mit psychometrischen Verfahren als ebenbürtig erwiesen hat, jede einzelne beantragte Psychotherapie auf Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit, auch bezüglich des Stundenumfangs.
Der Vorschlag von Prof. Wittchen, jeden Psychotherapeuten einem bestimmten Hausarzt zuzuordnen kann wohl nur als realitätsfern bezeichnet werden. Dies würde dem Grundrecht der Patienten auf freie Arztwahl widersprechen und ignoriert die insbesondere in der Psychotherapie so wichtige Passung zwischen Patient und Therapeut, die eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der psychotherapeutischen Behandlung darstellt. Prof. Wittchen reduziert damit außerdem die psychotherapeutische Tätigkeit auf eine Heilhilfsarbeit somatisch-ärztlicher Tätigkeit. Die sicher nicht ohne wissenschaftliche und rechtliche Expertise in das Psychotherapeutengesetz aufgenommene Gleichstellung psychischer mit somatischer Erkrankung und das Erstzugangsrecht der Patient/in zum/r Psychotherapeut/in werden damit konterkariert. Und Professor Wittchen reduziert Psychotherapie auf das angewandte Verfahren, das – ebenfalls wissenschaftlich bewiesen – nur zu maximal 15% für den Erfolg einer Therapie verantwortlich ist. Die viel wichtigeren Beziehungsvariablen lässt er außer Betracht.
Der VPP hofft, dass Prof. Hans-Ulrich Wittchen mit seinen Äußerungen gegen die Psychologischen Psychotherapeuten nicht allzu viele Patienten verunsichert hat.
Eva Schweitzer-Köhn
Bundesvorsitzende des VPP im BDP