Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat in seiner Sitzung am 16. Juni 2016 eine Änderung der Richtlinie über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie) und damit eine Strukturreform der ambulanten Psychotherapie beschlossen. Damit kam er dem gesetzlichen Auftrag des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes (GKV-VSG) fristgerecht nach. Die Neuregelungen können allerdings nur teilweise überzeugen.
Psychotherapeutische Sprechstunde
Mit der Reform kommt es zur Einführung neuer Versorgungselemente. Zentral und insgesamt positiv zu bewerten ist dabei die Schaffung einer fakultativen psychotherapeutischen Sprechstunde. Diese soll Patienten einen zeitnahen und niederschwelligen Zugang zur ambulanten Versorgung ermöglichen. Im Rahmen einer (Differenzial-)Diagnostik soll in der Sprechstunde abgeklärt werden, inwiefern eine krankheitswertige Störung vorliegt und weitere Hilfe notwendig ist.
Therapeuten können in Zukunft entscheiden, ob sie Sprechstunden anbieten. Tun sie dies, müssen mindestens zwei Stunden in der Woche vorgehalten werden – als offene Sprechstunde oder mit Terminvergabe. Die Sprechstunde ist als Einzelbehandlung in Einheiten von mindestens 25 Minuten angedacht: bei Erwachsenen höchstens sechsmal je Krankheitsfall (insgesamt also bis zu 150 Minuten), bei Kindern und Jugendlichen höchstens zehnmal je Krankheitsfall (insgesamt also bis zu 250 Minuten). Eine Sprechstunde von mindestens 50 Minuten ist verpflichtend für alle Patienten, die eine Psychotherapie machen wollen.
Telefonische Erreichbarkeit
Zur Verbesserung der Terminkoordination legt die Richtlinie eine telefonische persönliche Erreichbarkeit von 150 Minuten pro Woche bei vollem Versorgungsauftrag bzw. 75 Minuten pro Woche bei hälftigem Versorgungsauftrag fest. Bietet der Therapeut Sprechstunden an, erhöhen sich diese Zeiten auf 250 bzw. 125 Minuten. Diese Sprechzeit muss nicht durch den Therapeuten selbst abgedeckt werden; sie ist zum Beispiel an das Praxispersonal delegierbar. Fraglich ist, wie diese Leistung abgerechnet werden soll. Es muss befürchtet werden, dass die telefonische Sprechzeit nicht vergütet wird.
Psychotherapeutische Akutbehandlung
Ein weiteres neues und lange erwartetes Versorgungselement ist die psychotherapeutische Akutbehandlung: Sie dient als zeitnahe Intervention im Anschluss an die Sprechstunde zur Besserung akuter psychischer Krisen- und Ausnahmezustände – mit dem Ziel eine Fixierung und Chronifizierung der psychischen Symptomatik zu vermeiden.
Die Akutbehandlung erfolgt als Einzelbehandlung in Einheiten von mindestens 25 Minuten bis zu 24 Mal je Krankheitsfall (insgesamt also bis zu 600 Minuten) und ist gegenüber der Krankenkasse anzeigepflichtig, aber nicht berichtspflichtig. Sie muss innerhalb von 14 Tagen nach Indikationsstellung begonnen werden.
Probatorische Sitzungen
Die probatorischen Sitzungen werden in der Psychotherapie-Richtlinie erstmals klar in ihren Aufgaben und Zielen definiert. Allerdings wurde ihr Umfang auf maximal vier Sitzungen reduziert – eine Einschränkung, die fachlich schwer begründbar erscheint.
Die psychotherapeutische Sprechstunde ist der Probatorik vorgelagert, weshalb unter Umständen in Summe mehr Stunden zur Verfügung stehen. Da allerdings ein Therapeutenwechsel zwischen den verschiedenen Elementen möglich ist, können die Leistungen von unterschiedlichen Behandlern erbracht werden.
Maßnahmen der Rezidivprophylaxe
Die vom G-BA angedachten Maßnahmen der Rezidivprophylaxe zur Stabilisierung der erarbeiteten Fortschritte und Verhinderung von Rückfällen bilden – entgegen den Forderungen – keinen eigenständigen Leistungsbereich: Stattdessen sind die Stunden, die für eine weitere niederfrequente Behandlung genutzt werden sollen, Bestandteil des bewilligten Gesamtkontingents. Bereits im Antrag einer Langzeittherapie soll angegeben werden, ob und in welchem Umfang eine Rezidivprophylaxe angedacht ist. Eine Verlängerung der Behandlung zur Rezidivprophylaxe ist nicht zulässig.
Diese Neuregelung und die fehlende Umsetzung einer wirklichen Rezidivprophylaxe wird vom VPP kritisch bewertet, da diese nur im Rahmen einer Langzeittherapie und nur zulasten des bewilligten Therapiekontingents durchgeführt werden kann – und damit keine Verbesserung der Versorgung, sondern bestenfalls einen höheren bürokratischen Aufwand bedeutet. Es ist zu hoffen, dass dieser Punkt vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet wird.
Langzeit- und Kurzzeittherapie
Auch zukünftig wird es möglich sein, direkt nach den probatorischen Gesprächen eine Langzeittherapie zu beginnen. Die Höchststundenzahlen variieren je nach psychotherapeutischem Verfahren. Die angedachte Erhöhung des ersten Bewilligungsschrittes von 45 (VT) bzw. 50 (TfP) auf 60 Sitzungen ist sehr zu begrüßen.
Bei Verlängerung einer Langzeittherapie bleibt es zukünftig der Krankenkasse überlassen, ob sie einen Bericht an den Gutachter einfordert. Prinzipiell bleibt jedoch die Langzeittherapie gutachterpflichtig, ganz im Gegensatz zur Kurzzeittherapie, bei der das Gutachterverfahren generell entfällt. Allerdings ist zukünftig eine – sehr willkürlich wirkende – Zweiteilung der Kurzzeittherapie mit Teilen zu jeweils zwölf Sitzungen vorgesehen: In Fällen, in denen die ersten zwölf Stunden nicht ausreichen, muss erneut ein Antrag an die Krankenkasse gestellt werden. Diese Veränderung schafft vornehmlich zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Dabei gilt bei der Beantragung von Therapiekontingenten die sogenannte Genehmigungsfiktion: Falls die Krankenkasse nicht innerhalb von drei Wochen schriftlich rückmelden, dass sie einen Gutachter hinzuziehen wollen, gilt die beantragte Behandlung als genehmigt.
Gruppentherapie
Der Gesetzgeber erteilte auch den Auftrag, die Durchführung von Gruppentherapien zu fördern. Nach Ansicht des VPP ist der G-BA diesem Ziel mit den nun festgelegten Veränderungen noch nicht gerecht geworden: Analog zur Kurzzeittherapie entfällt auch für Gruppentherapien die Berichtspflicht, die Kontingente wurden denen der Einzeltherapie angeglichen und der Wechsel zwischen Einzel- und Gruppentherapie flexibilisiert. Auch soll die Einführung von Kleingruppen (Mindestgröße drei Teilnehmer) in allen Therapieverfahren helfen, mehr Gruppentherapien anbieten zu können.
Standarddokumentation
Der G-BA hat eine Standarddokumentation für die ambulante Psychotherapie eingeführt: Zu Beginn und am Ende einer Behandlung müssen von Patient und Psychotherapeut gemeinsam Fragebögen ausgefüllt werden. Dazu gehört auch die verpflichtende Verwendung von psychometrischen Testverfahren für alle Patienten. Diese verpflichtende Dokumentation für alle Patienten erscheint bisher noch wenig ausgereift – insbesondere, da die angedachten Vorgehensweisen als inadäquat eingeschätzt werden.
Obergrenzen im Jobsharing
Ein weiterer Beschluss regelt die Erweiterung der Obergrenzen im Jobsharing und in der Anstellung. Allerdings profitieren leider nur unterdurchschnittlich ausgelastete Psychotherapeuten: Diese können zukünftig über den Fachgruppendurchschnitt hinaus um 25 Prozent wachsen. Benachteiligt sind all jene Praxen, die bei Antragstellung über dem Fachgruppendurchschnitt liegen und den 25 Prozent Zuschlag nicht erreichen.
Gültigkeit ab 1. April 2017
Der Beschluss des G-BA wird dem BMG zur Prüfung vorgelegt und tritt nach Nichtbeanstandung und Bekanntmachung im Bundesanzeiger in Kraft. Die Änderungen sollen ab dem 1. April 2017 angewendet werden. Bis dahin müssen weitere Detailregelungen vom Bewertungsausschuss getroffen werden – unter anderem zur Vergütung der neuen Leistungen Sprechstunde und Akutbehandlung. Von diesen Beschlüssen wird der Erfolg der neuen Regelungen ebenso abhängen wie die endgültige Bewertung.
Der VPP-Bundesvorstand